Nicht alles glauben, was du denkst …

Kolumne Achtsamkeit im Alltag von Heike Wagner

Am Fenster
Hinterher konnte ich darüber lachen. Heftig sogar. Hatte ich doch angenommen, achtsam und wach genug zu sein, um mich nicht von Gedanken, Vermutungen und Assoziationen auf Abwege führen zu lassen. Jetzt also für eine Weile doch mal wieder:
Stellen Sie sich einen frühen Abend vor in einer Wohnstraße, regnerisch, noch auslaufender Berufsverkehr. Die meisten sind schon zu Hause und haben die wenigen freien Plätze am Straßenrand dicht vollgeparkt.  Ein etwas in die Jahre gekommener Transporter hält mitten auf der Straße vor einer Ampel, macht das Warnblinklicht an und erregt meine Aufmerksamkeit.  Er steht im Wege, etwas nervös und ungeschickt wird hin und her rangiert, bis der Fahrer ihn mitten auf dem Fußweg – weiter blinkend – zum Stehen bringt. Der steigt aus, geht etwas die Straße zurück, wo er mehrfach ein dort abgestelltes Fahrzeug umrundet. Bald zückt er das Handy, fotografiert Nummernschild vorn und hinten, geht schließlich zurück zu seinem Fahrzeug, fährt rasch ab. Am Auto-Türgriff bleibt etwas zurück, was aussieht wie ein Tuch, das in Wind und Regen zappelt.
Wohl nicht zuletzt durch sonntäglichen „Tatort“ geschult setzt das Kopfkino ein: Sehr merkwürdig, was macht der da? Komischer Typ! Und diese alte Karre. Das Tuch als Markierung, als Kennzeichen? Wofür?  Unbefugtes Auskundschaften, Datenklau, kriminelle Vorbereitungen …? Phantasie ohne Grenzen mündet in eine merkwürdige Abendstimmung.

Szenenwechsel
Gerade geht wieder ein Achtsamkeitskurs zu Ende. In den letzten Abenden haben wir praktiziert, reflektiert, erfahren:  Gedanken sind keine Tatsachen!  Geistige Gewohnheiten führen uns vielmehr automatisch auf gedankliche Wege und Abwege. Oft merken wir das gar nicht, halten das Gedachte für die Wahrheit. Eingestiegen, aufgesprungen auf einen Zug der Assoziationen, wie der Meditationslehrer Joseph Goldstein es beschreibt. Geprägt von unseren Lebenserfahrungen, persönlichen Mustern, von Vorliebe und Abneigung, Hören-Sagen, Medien-Bildern …  Bestenfalls sehr viel später merken wir, dass wir eingestiegen sind, steigen irgendwo wieder aus: abgelenkt, beunruhigt, verstimmt, weit weg von dem, was gerade tatsächlich geschieht.

Wenn Menschen sehr gestresst sind oder schon einmal depressive Episoden erlebt haben, führen diese automatischen Gedankenspiele nicht selten wieder zu einer verschlechterten Stimmung. Wusste ich doch, die Welt ist schlecht, unberechenbar, gefährlich. Und das vor der eigenen Haustür.
Alltäglich scheint sich diese unbewusste Haltung zu Verallgemeinerungen, Vorurteilen,  Verdächtigungen und anderen Irrtümern auszuwachsen. Produziert wahlweise Ärger, Aggression, Konflikte. Oder auch Zweifel, Niedergeschlagenheit, Ohnmacht.

Wahr – nehmen
Haben Sie einmal bewusst beobachten können, wie Sie Menschen und Situationen in der Straßenbahn wahrnehmen, wenn in den Medien gerade über einen Fall von Gewalt durch Migranten berichtet wird.  In welchen Gedankenzug sind Sie einstiegen, als drei junge Männer in die Bahn einsteigen und sich aufgeregt in einer fremden Sprache unterhalten? Oder an der Kasse im Supermarkt, jetzt, zu Zeiten der Corona-Epidemie, wenn Ihnen jemand mit dem Einkaufswagen sehr nahe kommt? Wenn Kolleginnen zusammenstehen und einen Plausch halten, der verstummt, wenn Sie dazu kommen?
Probieren Sie es mal aus: Was geht in mir vor und was geschieht jetzt wirklich gerade in dieser Situation. Wenn Sie ehrlich sind, nicht selten aufschlussreich, oder? Welche Gefühle ruft das hervor, wie verändert sich zumindest kurzfristig meine Stimmung?
Im Achtsamkeitskurs erforschen wir, dass wir dies eigentlich den ganzen Tag über tun und nicht selten sogar in mancher Nachtstunde, wenn wir mit Sorgen, Plänen und Planspielen beschäftigt sind. Könnte sich lohnen, dafür wach zu sein, oder? 

Zurück am Fenster
Am nächsten Morgen zufällig die „Auflösung“ des vermeintlichen Krimis vom Vorabend, die wohl eher wahre Geschichte: Ich sehe einen jungen Mann zum geparkten Auto gehen, stutzend beim Aufschließen der Tür. Bei Licht betrachtet, auch für mich: Das Tuch ist eine Plastiktüre, in die offenbar etwas eingelegt ist, was der Fahrer zu lesen scheint. Nun wiederum geht er um sein Auto herum, zückt das Handy, fotografiert, telefoniert schließlich. Wieder kann ich mir nur in Gedanken eine Erklärung zusammenreimen. Diese ist aber wohl um einiges näher an der Wirklichkeit: Ein kleiner Streifstoß am Kotflügel und ein gar nicht so komischer Typ, der dies dokumentierte und dem Parker eine Nachricht zukommen ließ.
Gut, dass ich meine Gedanken bald als das sehen konnte, was sie sind. Zunächst einmal einfach geistige Phänomene, die wahrgenommen und geprüft werden können.

So wünsche ich es mir und auch Ihnen.
Bleiben Sie achtsam und glauben Sie nicht alles, was Sie denken!