oder: Pendelmeditation
Kolumne Achtsamkeit im Alltag von Heike Wagner
„Gutartig“, höre ich den Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten sagen. „Gutartiger Lagerungs-schwindel“. Wie erleichternd! Aber das war es dann vorerst mit den erfreulichen Nachrichten.
Von Schwindelattacken hatte ich schon gehört, diese Berichte aber eher nicht so ganz ernst genommen. Kann ja mal sein, so ein bisschen schwanken. Kein Grund, dem weiter nachzugehen. Zwar waren die bunten Blätter an den Kiosken und in den Arztzimmern voll davon: Mittel und Mittelchen zur Einnahme, wenn sich alles dreht. Doch hielt ich das Ganze eher für ein YellowPress-Phänomen.
Weit gefehlt, wie ich erfahren konnte. Nicht wenige Familienmitglieder, Kolleginnen oder Freunde, Männer und Frauen, Alte und Junge – und auch die dazwischen – „outen“ sich als (ehemalige) LeidensgenossInnen, sobald ich das Thema zur Sprache bringe.
Wie also durch den Tag gehen, wie „lagern“, wenn sich alles dreht, wenn das Alltägliche im wahrsten Sinne aus dem Gleichgewicht gerät. Liegen: ganz übel. Sofort drehen sich Lampe, Fenster, Zimmer … alles. Sitzen: Ja, aber: bloß keine unbedachten Kopfbewegungen. Einfachste Handgriffe im Haushalt, etwa die Handtücher aus dem oberen Badregal holen – eher bleiben lassen! Kopf in den Nacken legen geht gar nicht.
Schwanken, Unsicherheit letztlich bei jedem Schritt. Das Gleichgewichtsorgan im Ohr erhält falsche Informationen. Dazu die vorauseilende Sorge: Was geschieht als nächstes? Nach draußen, in die Bahn steigen, aufs Rad … für ein paar Tage nicht daran zu denken. Und wie sieht das aus? So langsam tastend zum Bäcker gehen … Was mag man von mir denken?
Und warum erzähle ich all das?
Weil sich etwas Verblüffendes als hilfreich erwiesen hat: Statt Schonung anzuraten, schickt mich der Arzt mit einer bebilderten Übungsanleitung nach Hause. Mitten hinein in den Schwindel!
Um den kleinen Kristallen im Innenohr wieder den rechten Weg zu weisen, bekomme ich Anweisungen, mich in einem bestimmten Übungsablauf seitlich hin und her zu werfen, den Kopf auf genau beschriebene Weise zu drehen – ja, den Schwindel damit willentlich auszulösen. Auf der Bettkante sitzend, wissend, dass gleich Kleiderschrank, Wand, und Jalousien wieder Karussell fahren. Dass heftige Spannung aufkommt, massiver Unwille, Übelkeit … Einziger Lichtblick: „gutartig“! Ja, wohl auch Vertrauen in den freundlich ärztlichen Hinweis: „Nicht vergessen: der Schwindel kommt und er geht auch wieder.“ Also: weiter atmen …
Dies längere Zeit, mehrmals täglich – immer wieder der fest mit mir selbst vereinbarte Gang ins Unvermeidliche. Und tatsächlich, es wirkt. Es kommt der Moment, wo die Wände wieder stille stehen, wo die Welt nicht mehr bedrohlich schwankt.
Mögen kann man das nicht. Was mir aber aufgefallen ist: Mit meiner nach und nach sich verändernden Haltung wird es immer leichter. Annehmen, „auf den Wellen reiten“, statt sich ihnen entgegen zu stemmen: Hatten wir das nicht oft genug in den Achtsamkeitskursen zum Thema gemacht. Und begleitet es nicht meine Übungspraxis schon lange. Jetzt einmal mehr die Bewährungsprobe im Alltäglichen. Wie erhellend und ermutigend: Dem Unbehagen nicht ausweichen, stattdessen ganz da sein mit allem Unwillen, all der Spannung, der Übelkeit. So freundlich mit mir selbst wie möglich, so vertrauensvoll und geduldig wie möglich. Ganz da sein im Moment und auch dabei, wenn sich Augenblick für Augenblick Neues, Veränderliches und Verändertes zeigt.
In den ganz guten Momenten habe ich mir innerlich lächelnd zuschauen können dort auf der schwankenden Bettkante und nannte die Übungen meine Pendelmeditation.